1985 – Stichworte zu Manfred Schling

Text von Marie-Victoire Friedberg, Katalog herausgegeben von der Wewerka Edition, 1985, Berlin

Der Blick, Bilder

Bilder, die so sehr vom Blick des Betrachters abhängen, wie die von Manfred Schling, sind selten. In der Tat, sie drängen sich niemals mittels eines Kraftaktes von Farben und Formen auf, Jedes ist eine eher vage bzw. abgeschwächte Wiedergabe bedeutender wie auch einfacher Ereignisse, die Gefahr laufen, von den wasserähnlichen Diffusionen der Bildgründe verschlungen zu werden.

Nach der Überwindung einer kurzen Enttäuschung, aufgrund der Abwesenheit eines dramatischen Eklats, erfüllt sich der Blick allmählich mit dem Bild, das nicht aufhört, sich durch ständig wechselnde Wirkungen zu verändern. Sie hängen ab von der inneren Stimmung des Betrachters, vom umgebenden Licht und vor allem von der Komplexität des Wechselspiels der Kräfte auf der Leinwand. Und so begleiten kontinuierlich Überraschungen diese scheinbar monotonen Bilder. Der Blick ist irregeführt, aber auch gerührt und unruhig. Er sucht das Solide und Sichere und findet das Heikle, das Zerbrechliche und Verborgene. Seine Unruhe zeugt von dem Bild, außerhalb aller Fragen der Ästhetik, wie von einem Werk, das einem bedrohten Leben gleicht, bedroht nicht von außerhalb, aber von innen heraus, durch eine mögliche Unzulänglichkeit der Lebenskraft. Nun füllt sich der Blick mit Zuneigung für diese Bilder, die verteidigt sein wollen gegen die Lust, sich zu verlieren.

Spiel der Kräfte

Wenn der Betrachter von der Geschichte seines Blickes abstrahiert, dann sieht er, daß das von ihm pathetisch als heikel und fragil Bezeichnete ein Ergebnis jenes Kräfteverhältnisses ist, das zwischen den auftauchenden, zirkulierenden oder verschwindenden Spuren und den Bildgründen besteht, die sich für sie öffnen. Am häufigsten schattieren diese Spuren sich schwarz oder absorbieren den dominierenden Ton und verdunkeln ihn. Sie sind einzeln, oft zwei oder drei oder in zahlreichen Bündeln und zerfransen, verbreitern sich, entfernen oder nähern sich an, bilden Kurven oder rollen sich ein, jeweils nach einer geheimnisvollen Dynamik. Diese düsteren Linien auf der Leinwand evozieren weder die unregelmäßigen Bewegungen eines Bildgrundes noch eine Geste, die den subjedven Antrieb des Malers umschriebe, und auch keine Aktion, die eine bestimmte Geschichte bildlich darstellte. Sie sind Kraftlinien. Sie brechen auf, schieben, vereinen oder trennen sich, werden geboren oder sterben wie schwarze und langsame Feuerwerke. Und jedesmal binden sie das Bild an ein flüchtiges und vielleicht vom Zufall gesteuertes Ereignis.

Die sehr durchlässigen Bildgründe registrieren diese Spuren, um sie, je nach Bild, triumphieren oder sich verlieren zu lassen: sei es, daß sie sie auflösen bis sie verschwinden, sei es, daß sie sie in einem Aufbrausen von zu zarten Farben verschlingen oder, daß sie sie ihre Beständigkeit durch Teilung verlieren lassen, daß sie sich gegen ihre Einschärfungen verzerren und rissig werden, sei es, daß sie sich in den Bahnen ihres Farbflusses unterscheiden, sei es, daß sie sich von ihrem Schwarz anstecken oder – im Gegenteil – sich aufhellen, um die Spuren noch dunkler erscheinen zu lassen. Mit Faszination sieht der Betrachter dieses Spiel, das er im Einvernehmen mit seiner Gemütsstimmung als empfindsam oder falsch, als gewonnen oder verloren interpretiert.

Eine Geschichte

Was ist das für eine Geschichte, die von Bild zu Bild moduliert wird und die so sehr bewegt? Die Intuition sagt uns: Das ist das Leben, nicht das private in Psychologien und Anekdoten verwickelte des Malers oder des Betrachters, sondern das allgemeine Lebendig-sein aller und zu allen Zeiten, das der Menschen, der Tiere, der Erde. Es ist das Geboren-werden, das Allein-sein, das Sich-kreuzen, Sich-lieben, Sich-verlieren, das Sich-zerrütten und das Sterben, das die schwachen oder kräftigen Spuren auf den zugänglichen oder feindlichen Oberflächen des Bildes läßt. Die Titel sagen dies manchmal: „Schattenspieler“, „Drei verhalten“, „Aus dem Schatten“, „Die Beiden“, „Spur melancholisch“, „Die Drei suchend“, „Transit“. Sie sind auf ihre Weise modest und elliptisch, aber deuten auf das Wesentliche.

Melancholie

Diese Geschichte ist nicht lustig, sie badet in der Melancholie des Malers, die dem Bild oft diesen sanften und traurigen Ton verleiht. Sie bewegt sich weder in der realen Existenz noch in den Träumen, die einem schweren symbolischen Apparat geweiht sind. Aber sie wirkt in dem porösen Zustand der Träumerei, die die Vergangenheit und die Zukunft – die eigene und die der Welt – absorbiert und die durchdrungen ist vom Schein einiger Zeichen. In früheren Bildern erschienen diese Zeichen in der öden Gestalt von geklebten Papieren und Lappen, angehäuftem Granulat und sich abhebenden Inschriften, die versuchten, sich festzuhalten, koste es was es wolle. In den neuen Bildern suchen sie sich einen Weg, der dem Betrachter weniger bedroht erscheint, als ob sie vom Überleben ins Leben wechselten.

Tradition

Die Bilder von Manfred Schling reihen sich natürlich ein in die Tradition der abstrakten Malerei, aber sie geben ihr eine neue Sinnrichtung, die einer melancholischen und einfachen Erzählung fundamentaler Ereignisse allen Lebens. Es sind nicht die narzißtischen Landschaften einer Seele, nicht die kühlen Reduktionen der Welt, nicht die spontane Gestik einer „peinture en procès“; es handelt sich um eine Eintauchen in die Quellen.

Ersonnen und realisiert in Berlin, vielleicht im Widerspruch zu einer Stadt, wo das Leben stärker pulsiert, weil es bedroht ist, bilden Schlings Arbeiten ein Gegengewicht zur jungen und explosiven Tradition der Neuen Wilden. Seine Bilder sagen uns: Es gibt eine andere Art zu sehen und zu fühlen, weniger aggressiv, weniger spektakulär, aber stiller und tiefdringender. Ich mag die Bilder von Manfred Schling.