1986 – Abstrakt ist nicht gleich ungegenständlich

Thomas Kornbichler, Dokument + Analyse, 1.10.1986

Manfred Schlings Titel markieren 2 psychische Zustände, die zugleich die Grundstimmung seiner Bilder abstecken:

1. eine verhaltene Neugier, auch schüchterne Frechheit, und stille Besinnlichkeit: „Die Drei suchend“, „Tageufer“, „So still“ , „Drei / verhalten“ oder ,Shadow of your smile“ deutet darauf hin.

2. eine latente Depressivität, auch melancholische Tiefgründigkeit, kämpferische Trotzigkeit und ernste, strenge Humanität: Dafür stehen Titel wie „Rot/Schwarz“, „Ankunft – schwarzer Schwan“, „Achäer, Tristesse“, „Blau, somnambul“, „On the road“, „Spur melancholisch“, und „In der Höhle des Fürsten“.

Unser Dokument ist, wie alle Arbeiten Manfred Schlings, ein „abstraktes“ Bild. Doch ist das Gemälde deshalb keineswegs „ungegenständlich“.

In der Höhle des Fürsten (1985) 

Zu „In der Höhle des Fürsten“ erzählt Manfred Schling eine Geschichte: In einer Illustrierten sah er die Abbildung einer Grabstätte eines keltischen Fürsten. In der Grabstätte, einem Erdloch oder einer Höhle, liegt dieser Fürst, aufgebahrt auf einem eisengeschmiedeten Bettgestell. Manfred Schling war angetan von der Schlichtheit dieser Grabstätte, der Schlichtheit dieses Fürsten. Weshalb es gerade die Grabstätte eines keltischen Fürsten war, die Manfred Schling inspirierte, können wir verstehen, wenn wir wissen, daß er auch Romanist ist, sich gerne nach Frankreich hin, insbesondere nach Paris, orientiert. Gallien war das Land der Kelten.

Der Künstler erläutert, daß er in seinem Bild „In der Höhle des Fürsten“ von diesem Eindruck ausging, als er zu malen begann. Die beiden horizontal verlaufenden Bewegungen im Bild vergegenwärtigen den Körper des Fürsten auf dem Totenbett. Die Farbgebung ist erdhaft. Sie suggeriert dem Betrachter, daß er „In der Höhle des Fürsten“ stehe.

Inhaltlich bleibt das Bild abstrakt. Wir wissen nicht, welcher keltische Fürst hier liegt, an welchem Ort er liegt; es gibt auch keine Verweise auf archäologische Untersuchungen, die es uns ermöglichen den Gegenstand‘ zu identifizieren. „In der Höhle des Fürsten“ sieht vom Gegenständlichen ab. Wenn wir es genau bedenken: Hätte uns der Künstler nicht seine Geschichte erzählt, dann wären wir selbst nie auf den Gedanken gekommen, daß es sich hier um die Totenstätte eines keltischen Fürsten handelt. Der Titel „in der Höhle des Fürsten“ hätte uns ebenso gut an einen germanischen oder gar chinesischen Fürsten denken lassen können.

Schlings Bild zeigt uns also nicht das Grab eines keltischen Fürsten. Es ist allenfalls die abstrakte Vergegenwärtigung seiner Grabstätte. Nachvollziehbar ist dies nur für den, der um den Auslöser der Inspiration weiß.

Schlings Bilder machen sinnlich.

Einen anderen Zugang erschließt eine Interpretation, die nur das Werk betrachtet. Mit „Werk“ ist in diesem Fall nicht das einzelne Werk, hier „In der Höhle des Fürsten“, sondern das bisherige Gesamtwerk des Künstlers gemeint. Manfred Schling interessiert sich für die Materialitäten der Farbträger ebenso wie für die Farben. Sinnlichkeit der Augen und Sinnlichkeit des Tastsinns gehen in den Arbeiten Manfred Schlings eine eigentümliche Verbindung ein. Zuweilen laden seine Arbeiten ein, die Hand auf die Bilder zu legen, sie zu ertasten und über die ganze Fläche hinwegzustreichen. Nicht zuletzt in diesem Sinne sind die Bilder Schlings attraktiv: Sie ziehen an.

Diese Attraktivität ist nun aber das Gegenteil von Abstraktion. Sinnlich konkret ist das Erlebnis der Bilder Manfred Schlings. Gegenständliche Materialität sowie Leuchtkraft und Sattheit der Farbe kommen in seinen Arbeiten voll zur Geltung.

Die Wirkung einfacher, schlichter und archaischer Formen ist eines der Geheimnisse der Malerei Manfred Schlings. Ihre handgreifliche Struktur, eine satte, erdige Farbigkeit und elementare Formen bilden den Fundus, aus dem er seine Arbeiten schafft. Wenige vertikale oder horizontale Linien deuten ein Zentrum an. In dem Bild „In der Höhle des Fürsten“ bildet dieses Zentrum der große schwarzweiße Bogen, der Fürst und Totenbett meint.

n der Höhle des Fürsten sucht Schling Verdrängtes.

Mit seinen Arbeiten wehrt sich Schling gegen eine plastikglatte Sauberkeit, gegen eine Welt, in der alles neu, poliert und steril sein muß. Nicht von ungefähr erinnern die Bilder dieses Künstlers an alte Häuserwände, an Verwitterung, an das, was hinter den glatten Fassaden der großen, scheinheiligen Boulevards zu sehen ist. Nicht von ungefähr tragen seine Bilder Titel wie „Aus dem Schatten“, „Schattenspieler“ und „Shadow of your smile“. Hinter der aalglatten Fassade perfektionierten Managertums sucht Manfred Schling das Menschliche, das heißt auch: die verbindliche Schwäche, das Erlebnis der Vergänglichkeit, den Wert, die Echtheit.

Das Bild „In der Höhle des Fürsten“ kann auch ganz für sich allein stehen. Wer weder den Künstler, noch seine Biographie, noch sein Gesamtwerk kennt, der muß sich über die Abbildung der Arbeit „In der Höhle des Fürsten“ mit sich selbst verständigen.

Wer die gängigen Vorurteile gegenüber der zeitgenössischen Malerei hinter sich läßt und die Begegnung mit Manfred Schlings Malerei sucht, der wird zunächst in eine nachdenkliche Stimmung versetzt. Der schlichte und zurückhaltende Gesamteindruck seiner Arbeit läßt Raum für das Gespräch mit sich selbst. Eigene, nicht selten melancholisch gefärbte Erinnerungen tauchen auf. Die alltägliche Begegnung mit den alternden Dingen unserer Welt kommt zu ihrem Recht.

Jeder mag in sich selbst hineinhören und sehen, was sich zu regen beginnt. Niemand, das betont Manfred Schling, solle so vermessen sein zu denken, daß er einen privilegierten Zugang zum ästhetischen Erleben habe. Jeder ist fähig, sich den Erfahrungen des Schönen, aber auch des Häßlichen zu öffnen. Das ästhetische Erleben gehört mit zur Grundausstattung jedes Menschen. Von vielen wird das Wunderbare solchen Erlebens übersehen, der Mut zur Ästhetik verstellt. Dabei ist der Zugang ein großes Tor.

Schling verweist auf das Naheliegende. Er legt auf seine Weise Zeugnis ab von der Staunen erregenden Großartigkeit unserer Welt. Aber darüber vergißt er keineswegs ihre Schattenseiten. Melancholie und Begeisterung halten sich bei diesem Künstler die Waage.