1982 – Ausstellung in der Galerie Wewerka, Berlin
Reinold Werner in Katalog der Ausstellung der 03. – 26. Sept. 1982
Passage Infini.
Künstler heute, scheint mir, erst recht die malenden und bildenden, sind oft Resteverwerter, die aus dem im Überfluß vorhandenen Zeugnissen kultureller Vergangenheit und Gegenwart Auslesen ins Werk setzen und die mit dieser Geste ein letztes und allerletztes Mal den Profanisierungsprozess bremsen, der das ästhetische Objekt ganz und gar erfaßt zu haben schien. Nur, man kann mit Resten umgehen, wie man will: man kann sie verkleinern und als Rest aufheben, man kann sie vergrößern und den Schein einer Totalität ausstellen, man kann sie zerstückeln und unkenntlich machen, man kann sie als Abfall behandeln und so wieder repräsentationsfähig machen, als ästhetisches Ereignis behalten sie in erster Linie den Charakter eines Fragmentarischen, das hartnäckig auf das verweist, was immer fehlen wird oder wie man’s nimmt auf immer verloren gegangen ist, und gerade unter dieser Voraussetzung sind sie ästhetisch vollendungsfähig.
Das Ereignis der Bilder von Manfred Schling liegt in der Art, den Rest piktural zu formulieren. Seine Bilder zeigen imaginare Landschaften, in denen jeweils etwas Gewaltiges hinzutritt oder übrigbleibt, was diese Landschaft erst strukturiert und zur ästhetischen Natur macht.
Wenn das Auge über diese Natur spaziert, erhält es keinen Eindruck, der zur satten Information würde, keine codierte Botschaft. Das Auge kann im Spannungsfeld zwischen Materie und Material umherschweifen, ohne von einem Eindruck beherrscht zu werden; es wird vielmehr die Bewegtheit des Bildes zu seiner eigenen Bewegung machen, doch ohne sich zu verlieren: irgendein Rest (eine Linie, ein Strich, eine Bahn, die sich hier und da zu Quadraten, Dreiecken oder Graphismen aufwerfen) nimmt sich unweigerlich seiner an und stellt sich ihm entgegen, stellt sich bloß, macht einen Strich durch die Rechnung.
Durch welche? die, daß eben jede Rechnung aufgehen müßte oder: daß jeder Sinn aufgeht, daß keine Geste über ihr Ziel hinausschießt, daß jede Bewegung stimmt, daß kein Augenblick umsonst war…
Auf diese Weise enthüllt sich dem Auge die verführerische Natur eines Zeichens, das noch gar nicht zu Ende gesetzt ist und das gerade deshalb so vielversprechend ist, eines Zitats, das seinen Kontext nicht preisgibt, oder einer Spur, die zu keiner Fährte führt. Ansichtssachen. Fetische, die vorübergehend Halt bieten, gebieten. Nur zögernd wird sich das Auge von ihnen wieder abwenden.
Es wird eine ruhige Farbe anvisieren, die ganz sanft mit der Nachbarschaft zu ihrem dunklen Extrem spielt, das sie andeutet oder das sie als ihren eigenen Rahmen duldet. Der keine Festungsmauer ist und auch keine Abgrenzung zu einer anderen Farbe. Das Auge wird vielmehr auf einen leichten Kontrast stoßen (etwa ein flüchtiges Rot inmitten einer hellen Grauzone), der sich nicht behaupten will, der sich einstellt und dessen Flüchtigkeit im Nachhinein die Begegnung mit dem Einen Verlorenen, Befragten zu einem Schock macht. In dem Fall wird das wandernde Auge irgendwo einen Kontrapunkt ausmachen, der den Kampf, in den es kurzfristig verwickelt wurde, an seiner Statt weiterführt.
Wenn es diesen Stellvertreter geortet hat, ist ein Überblick möglich. Jetzt erst gewinnt es den Abstand, das Bild als Teil eines Ganzen vorzustellen. Die Fläche verkleinert sich dann zum Ausschnitt einer Graffitimauer etwa, eines befleckten Gewebes, eines gebrauchten Etwas. In Ruhe gelassen wird der Blick dennoch nicht. Er begibt sich wieder in das Spannungsfeld, in die unheimliche Mitte, in die ihn der Rest ohne Anfang und Ende zwingt. Er folgt der Lust sich niederzulassen, abzuwarten, um wieder entlassen zu werden ‑ in die Idee einer Unendlichkeit, die kein Augenmaß zuläßt.
So sollte bestenfalls ein Rhythmus zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit entstehen, der seinerseits nicht begrenzt ist. Er kann sich fortsetzen von Bild zu Bild, von Raum zu Raum. Raum, der gezeigt hat, daß er sich ununterbrochen füllt und/oder daß die Fülle auf einer Unterbrechung, einer Leerstelle, einem Rest beruht. Passage infini…